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19 June 2020

13.06.2020, Unternehmen (Wirtschaft), Seite 24

Die Massentierhaltung ist anfällig für Pandemien und zugleich deren Verursacher, warnt der Bericht einer internationalen Investorenvereinigung. Die Missstände belasten nicht nur die globale Fleischindustrie.

Gerade hat die Corona-Krise wieder einmal die unhaltbaren Zustände in der Fleischindustrie offenbart. In deutschen Betrieben infizierten sich Hunderte osteuropäische Hilfskräfte mit dem Covid-19-Virus, die in beengten, teils heruntergekommenen Sammelunterkünften leben. Darauf folgte ein Aufschrei gegen Billigfleisch und schlechte Arbeitsbedingungen. Schon zuvor zog ein Skandal um verdorbenes Fleisch in einer Wurstfabrik bundesweit Kreise. Die ganze Branche gerät so immer mehr in Verruf. Eine aktuelle Studie, die erstmals einen Fokus auf die globale Industrie von Fleischproduktion, Fischverarbeitung und Molkereierzeugnissen gerichtet hat und deren Ergebnisse der F.A.Z. vorliegen, zeigt nun ein noch besorgniserregenderes Bild: Fast drei Vierteln der 60 größten börsennotierten Konzerne dieser Sektoren, welche unter anderem Supermarktketten und Schnellrestaurants in der ganzen Welt beliefern, wird aufgrund vielfältiger Missstände ein “hohes Risiko” für die Entstehung und Verbreitung künftiger Infektionskrankheiten zugeschrieben, die sich auch von Tier zu Mensch übertrügen (Zoonose).

Entscheidende Anforderungen an die Tierproduktion würden nicht erfüllt, heißt es im Bericht der auf nachhaltige Investitionen spezialisierten internationalen Investorenvereinigung Fairr. Es fehle zur Vermeidung solcher Pandemien an sicheren Arbeitsbedingungen und Lebensmitteln, angemessenem Tierschutz, einem Erhalt der Artenvielfalt und verantwortlichem Einsatz von Antibiotika. “Die Massentierhaltung ist anfällig für Pandemien und zugleich deren Verursacher. Es ist ein sich selbst zerstörender Kreislauf, der Werte vernichtet und Leben gefährdet”, sagt Fairr-Gründer Jeremy Coller.

Riesige Industriefarmen, Betriebe der Massentierhaltung und auch die Nassmärkte Asiens, die mehr als 70 Milliarden Tiere im Jahr für 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt produzierten, befänden sich gerade im Zentrum eines Sturms. Der Aufschwung dieser Art der Herstellung in den vergangenen 70 Jahren habe eine immer häufigere Reihe von Zoonose-Ausbrüchen mit sich gebracht – von BSE (1989) über Sars (2002), die Schweinegrippe (2009), Mers (2012), Ebola (2014), Zika (2015), das Dengue-Fieber (2016) bis jetzt zu Covid-19. “Dieses Virus muss ein Weckruf sein für die gesamte Branche”, sagt Coller.

Die Pandemie habe in vielen Ländern zu insgesamt Zehntausenden infizierten Arbeitern in der Fleischindustrie und Betriebsschließungen auch in Deutschland geführt. In der Fischindustrie habe überschüssige Ware entsorgt werden müssen. Schweine, die wegen fehlender Verbrauchernachfrage nicht geschlachtet worden seien, hätten gekeult werden müssen, um Platz für die nachgeborenen Ferkel zu schaffen. In Großbritannien würden schätzungsweise eine Million Liter Milch am Tag wegen geschlossener Gastronomiebetriebe (Coffee Shops) einfach ungenutzt weggeschüttet.

Aufgrund der Corona-Krise seien Ende Mai die Aktienkurse von vier der größten fleischverarbeitenden Betriebe in den Vereinigten Staaten (JBS, Smithfield, Tyson und Sanderson Farms) um 25 Prozent gefallen, während der Markt mit 9 Prozent im Minus gelegen habe. Die Untersuchung führt an, dass die Investmentbank Goldman Sachs Vieh neben Öl als einen der beiden unsichersten Rohstoffe für Investoren im nächsten Jahr aufgeführt habe.

Kein deutsches Unternehmen erreicht die Größe der in der Studie betrachteten Großkonzerne, die vor allem in Nord- und Südamerika sowie Asien beheimatet sind. Doch neben illegalen Schlachtmethoden und falschen Haltungsbedingungen gerieten auch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und die mangelnde Hygiene in den Betrieben hierzulande in die Kritik. In den Produkten des inzwischen insolventen Wurstherstellers Wilke wurden im vergangenen Jahr Listerien-Keime nachgewiesen. Dann gerieten Lebensmittelhändler aufgrund von niedrigen Warenpreisen unter Druck. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) bezeichnete Hähnchenschenkel für 26 Cent als “unanständig”.

Aufgrund der vielen Corona-Fälle in deutschen Schlachtbetrieben beriet das Kabinett Ende Mai über strengere Auflagen. Darauf nimmt die Fairr-Studie Bezug. Es geht um das Verbot von Werkverträgen, eine digitale Erfassung der Arbeitszeiten, höhere Bußgelder und häufigere Kontrollen auch der Wohnverhältnisse der Arbeiter. “Diese Missstände sind unwürdig und gefährlich. Wir wollen sie schnell und gründlich beheben”, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). In den kommenden Wochen soll ein Gesetzentwurf vorgelegt werden.

Die vielen Skandale könnten mit dazu geführt haben, dass der Markt der Fleischersatzprodukte in den vergangenen Jahren zum Teil stark gewachsen ist. Die neuen Produkte könnten im Jahr 2030 in Deutschland einen Anteil von 28 Prozent am gesamten Fleischmarkt ausmachen, heißt es in einer Studie der Berater von A.T. Kearney. Die Fairr-Analysten rechnen hoch, dass Alternativprodukte wie pflanzliche Burger in den nächsten 30 Jahren auf dem Weltmarkt neben dem Fleisch einen Anteil von 16 Prozent erobern könnten. Die Investorenvereinigung rät den Konzernen zu einer konsequenten Hinwendung zu Ersatzprodukten auf Pflanzenbasis, um das eigene Geschäftsmodell abzusichern. In den Vereinigten Staaten seien bisher im Jahresvergleich die Verkäufe von pflanzlichen Fleischalternativen um 80 Prozent gestiegen.

Deutschland ist der größte Markt für vegane Produkte auf der Welt, gefolgt von Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Nach einer Allensbach-Studie ernähren sich rund sechs Millionen Menschen vegetarisch, rund eine Million Menschen sind Veganer. Hinzu kommen Konsumenten, die nur selten Fleisch essen oder nur einzelne Produkte vegan kaufen, zum Beispiel aufgrund von Unverträglichkeiten. Im aktuellen Ernährungsreport der Bundesregierung gaben mehr als 40 Prozent der Befragten an, Fleischalternativen wegen des Klimawandels zu kaufen, beinahe die Hälfte nannte Tierwohl als Grund.

Inzwischen verkaufen fast alle Supermärkte und Discounter in Deutschland Fleischalternativen – mit Erfolg. Als Nestlé, größter Nahrungsmittelhersteller der Welt, seinen veganen Burger auf den Markt brachte, ist laut Unternehmen ein Verkaufsschlager daraus geworden. Selten habe es so eine Dynamik bei einem einzelnen Produkt gegeben. Trotzdem: Der Fleischkonsum hat hierzulande in den vergangenen Jahren nur leicht abgenommen. Im Durchschnitt konsumierte jeder Verbraucher im vergangenen Jahr 59,5 Kilogramm, 2011 waren es 62,8 Kilogramm.

Autoren: Michael Ashelm und Stefanie Diemand, Frankfurt

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